boerse.ARD.de: Herr Ehrhardt, die Märkte operieren anscheinend wieder im Krisenmodus. War's das schon mit der Liquiditätsrally?
Jens Ehrhardt: Ich glaube nicht. Zwar scheint die Börse im Moment keine richtige Perspektive zu sehen, die Liquiditätsrally ist ins Wanken geraten. Viele Anleger gewinnen den Eindruck, die Liquiditätsspritzen der EZB haben nichts genützt. Doch ganz so düster würde ich das nicht sehen. Ich denke, das Schlimmste ist vorbei. Man sollte auch die Markttechnik nicht aus dem Auge verlieren. Am Montagmorgen haben wir einen extremen Pessimismus gesehen. Das ist aber ein Kontraindikator und für mich somit ein Signal, dass die Märkte erst einmal nicht mehr weiter runtergehen dürften.
boerse.ARD.de: Europäische Aktien bleiben also trotz Schuldenkrise attraktiv? Mit anderen Worten: Sind das jetzt Kaufkurse?
Ehrhardt: Mein Votum lautet: Zumindest Halten. Man kann auch schon wieder ein bisschen zukaufen. Schließlich sind die Bewertungen europäischer Aktien historisch niedrig. Nur einmal waren sie bislang im Vergleich zu den USA so niedrig bewertet wie heute. Überhaupt: Erfolgreiche Unternehmen lassen sich selbst in Italien und Spanien finden. Warum sollte man denn alle in einen Topf werfen?! Hinzu kommt: Dax- beziehungsweise Europa-Aktien machen etwa die Hälfte ihres Umsatzes außerhalb Europas. Man kauft also mit vielen Aktien auch die Weltkonjunktur. Eine Anlage in eine gute Aktie ist also nach wie vor sehr sinnvoll.
boerse.ARD.de: Wie lautet Ihre Prognose, wann wird denn hierzulande die nächste Geldspritze fällig? Oder wird sich die EZB nach der "dicken Bertha" eher zurückhalten?
Ehrhardt: Ich glaube nicht, dass die EZB hier noch große Schritte zurück machen kann. Im Gegenteil: Die wird im Bedarfsfall auch noch spanische und italienische Anleihen aufkaufen. Das sollte man aber nicht gleich verurteilen. Der EZB bleibt gar nicht anderes übrig als nachzuschieben. Denn wenn die Euro-Bond-Märkte kippen würden, würde das nicht nur die Banken runter reißen, sondern auch die Staaten. Andererseits ist es aber auch wichtig, dass die Regierungen die Zeit nutzen, die ihnen die EZB gekauft hat. Leider haben aber die Politiker der Mittelmeerländer hier bislang zu wenig zu Wege gebracht. Das ist schon sehr enttäuschend. Wobei ich hier keineswegs nur von Einsparungen rede. Das ist Politik der 1930er Jahre und man hat ja gesehen, wohin das geführt hat. Nein, ich ziele vor allem auf Strukturreformen ab. Spanien benötigt dringend eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Wenn es jetzt auch wieder heißt: Diese Länder werden viel zu hart an die Kandare genommen. Dann sollte man aber auch nicht vergessen: Ewig kann der starke Norden diese Länder nicht mitziehen. Die EZB hat den Regierungen Spielraum verschafft, den müssen sie jetzt aber auch nutzen.
boerse.ARD.de: Was ist geldpolitisch aus den USA zu erwarten? Aus den jüngsten Fed-Minutes ließ sich jedenfalls kein Bekenntnis zu einem QE3-Programm ablesen
Ehrhardt: Bislang sagt sich die Fed, die Konjunktur läuft doch. Das kann sich aber ganz schnell ändern. Die Fed wird wieder über eine neue Lockerung nachdenken, wenn sich die konjunkturellen Zahlen verschlechtern. So hat sich etwa der Weekly Leading Index des Economic Cycle Research Institute (ECRI) in den USA einer der wichtigsten Frühindikatoren jüngst erstmals wieder etwas abgeschwächt. Das ist noch nicht alarmierend. Aber die US-Konjunktur wird sich sicherlich künftig nicht so eindrucksvoll positiv entwickeln wie noch im ersten Quartal. Die Fed wird bereit stehen, um das aufzufangen. 2013, nach den Präsidentschaftswahlen, droht den USA eine fiskalpolitische Bremspolitik. Die Fed dürfte dem mit noch mehr "Quantitative Easing" entgegenwirken.
boerse.ARD.de: Und wann ist in China mit einer Lockerung der geldpolitischen Bremspolitik zu rechnen?
Ehrhardt: Die chinesische Notenbank ist die weltweit strengste Notenbank, sozusagen die frühere Bundesbank. Im Moment fürchten die Chinesen die anziehende Inflation noch zu sehr. Auch geht es weiterhin darum, den Immobilienmarkt auszubremsen. Aber sollte die Konjunktur in Europa schwächeln, würden die Chinesen ihre Geldpolitik lockern, um die Exportunternehmen zu unterstützen, keine Frage. Ich denke, viele Akteure an den Finanzmärkten haben eine Lockerung zu schnell herbeigesehnt. Und dabei übersehen, dass 8,1 Prozent Wachstum doch immer noch ganz gut ist. Fakt ist aber auch: Die werden den Hahn schon aufdrehen. Kurzfristig bin ich für den chinesischen Aktienmarkt zwar eher skeptisch. Da ist im ersten Quartal viel heißes Geld rein geflossen, gerade von Fonds-Seite. Aber auf mittelfristige Sicht ist der chinesische Markt sicherlich der beste Aktienmarkt.
boerse.ARD.de: Früher war es die Gewinnentwicklung der Unternehmen, welche die Märkte bestimmte. Heute scheinen die Gelddruck-Aktivitäten der Notenbanken zum wichtigsten Börsenindikator zu mutieren. Was würden Sie einem deutschen Privatanleger vor diesem Hintergrund raten?
Ehrhardt: Das ist eine verzwickte Situation. Ich schrecke ja normalerweise nicht vor kernigen, klaren Aussagen zurück. Aber im Moment ist es verdammt schwierig, alles auf eine Karte zu setzen. Ein eindeutiger Trend ist nicht in Sicht. Es gibt einfach zu viele Unwägbarkeiten. So kann dieser schwer kalkulierbare Ölpreis wieder steigen. Spanien kann jederzeit wieder dazwischenfunken. Dann sind da noch die französischen Wahlen: Sollte tatsächlich Hollande an die Macht kommen, würde das die Märkte nochmals gehörig aufwirbeln
Vor diesem Hintergrund kann man einfach nicht "knochenbullish" sein. Man sollte aber bedenken: Rein historisch gesehen, sind deutsche Aktien derzeit wirklich nicht teuer. Zudem darf man damit rechnen, dass die EZB ihre expansive Politik weiter beibehalten wird. In der globalen Perspektive bieten sicherlich auch chinesische Aktien Chancen. Andererseits wäre es gefährlich, alles auf Aktien zu setzen. Das Gebot der Stunde heißt also: Verteilen etwas in Immobilien, etwas in Aktien, etwas in Gold.
Das Gespräch führte Angela Göpfert
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