So deutlich sind die Töne aus Brüssel selten: Von einer "neuen Kluft" sprach Sozialkommissar Lázsló Andor in Brüssel bei der Vorstellung des Beschäftigungs- und Sozialberichts der EU-Kommission. Und: Die Randstaaten "scheinen in der Abwärtsspirale von Leistungsabfall, schnell steigender Arbeitslosigkeit und erodierenden Einkommen gefangen", schrieben seine Experten. Für die Zukunft sehen sie düster.
Widersprechen kann man dieser Einschätzung kaum. Schließlich spiegelt die Einschätzung kein Gefühl wider, sondern lässt sich auch mit Zahlen belegen. Eurostat gab fast zeitgleich die aktuell verfügbaren Zahlen zum europäischen Arbeitsmarkt bekannt. Demnach ist die Arbeitslosenquote EU-weit auf 11,8 Prozent gestiegen (November 2012), und damit auf den höchsten Stand seit fast zwanzig Jahren. Lag die Quote in Nord und Süd vor fünf Jahren noch nahezu gleichauf, klafft sie heute 7,5 Prozentpunkte auseinander. Bei den Langzeitarbeitslosen ging die Quote für alle EU-Länder von 2009 bis 2012 von drei auf 4,6 Prozent hoch. Besonders hart betroffen sind die Slowakei, Spanien, Griechenland, Irland und die drei Baltenstaaten Estland, Litauen und Lettland: Dort ist mehr als jeder siebte aus der aktiven Bevölkerung dauerhaft ohne Arbeit.
"2012 war ein weiteres sehr schlechtes Jahr für Europa"
Parallel dazu sind die realen Einkommen der Haushalte in zwei von drei Mitgliedsstaaten gesunken. In Griechenland haben Familien gegenüber 2009 fast ein Fünftel weniger Geld (17 Prozent), in Spanien acht und auf Zypern sieben Prozent weniger. Immer mehr Menschen würden so an den Rand gedrängt. In den Nordländern, in Deutschland, Frankreich und Polen haben die Menschen dagegen trotz Krise mehr in der Tasche.
Griechenlands Baustellen 2013
Haushaltskonsolidierung
Griechenland muss gemäß dem neuen Sparprogramm den Staatshaushalt um 13,5 Milliarden Euro bis Ende 2014 entlasten. Weitere 3,4 Milliarden Euro sollen anschließend bis 2016 eingespart werden. Das Programm sieht vor, Renten und Löhne zu kürzen, das Rentenalter auf 67 Jahre anzuheben und Staatsbedienstete zu entlassen. Nur so wird Athen die Voraussetzungen für weitere Hilfszahlungen erfüllen können.
Das Ziel der Troika (EU, IWF, EZB) ist es, den Schuldenstand des Landes auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken. Doch davon ist Athen nach wie vor weit entfernt: Die Verbindlichkeiten des Landes belaufen sich auf über 165 Prozent des BIP. 2022 soll Griechenland dieses Ziel erreichen – zwei Jahre mehr, als ursprünglich von der Troika geplant. Doch 2013 dürfte es weiter schwierig für das schuldengeplagte Land werden. Allein, weil die Wirtschaft wohl zwischen 4,2 bis 4,5 Prozent schrumpfen wird.
Kampf dem Steuerbetrug
Die CD, mit Namen von 2000 Griechen mit Schweizer Geldkonten, die zwei Jahre lang verschwand und nun den sozialistischen Ex-Finanzminister Giorgos Papakonstantinou hinter Gitter bringen könnte, zeigt: Griechenland muss den Steuerbetrug konsequenter angehen. Das sieht auch eine Mehrheit der griechischen Bevölkerung so. 68 Prozent kritisierten in einer Umfrage der Tageszeitung "To Vima", dass ihre Regierung den Steuerbetrug nicht konsequent bekämpft.
Privatisierung
Die Regierung in Athen muss die Privatisierung von Staatsbesitz weiter vorantreiben. Im vergangenen Jahr hatte der Hellenic Republic Asset Development Fund (HRADF), die Privatisierungsanstalt des griechischen Staates, zahlreiche Vorhaben auf dem Weg gebracht. Doch nur eine Handvoll von Projekten sind tatsächlich über die Bühne gegangen. Was noch zu privatisieren ist: Flughäfen, Regierungsgebäude, maritime Häfen, die staatliche Pferderenn Wetten-Gesellschaft.
Neugliederung der Verwaltung
Die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst wird 2013 weiter abnehmen. Insgesamt sollen bis Ende des Jahres 25.000 Arbeiter weniger für den Staat arbeiten. Zahlreiche Organisationseinheiten und Behörden müssen fusionieren oder geschlossen werden.
"2012 war für Europa ein weiteres sehr schlechtes Jahr, was die Verschlechterung der sozialen Lage betrifft", sagte Andor. Der Sozialbericht ist auch für die Euro-Retter ein niederschmetternder Befund. Denn allen milliardenschweren Notkrediten und Hilfsprogrammen zum Trotz geht die Spirale im Süden nur abwärts. Denn die harten Auflagen haben ihnen die Atemluft für Steuersenkungen oder höhere Sozialleistungen genommen, wie Andor einräumte. Außerhalb der Eurozone sei die Kluft zwischen Nord und Süd daher auch "bedeutend kleiner".
Rettung kann aus Andors Sicht nur eine Doppelstrategie bringen. Einerseits sei die Stabilisierung der Volkswirtschaften durch Mechanismen, wie sie für die Vertiefung der Währungsunion diskutiert werden, "dringend notwendig". Das liefe letztlich wohl auf einen Transfer von Nord nach Süd hinaus, etwa durch einen Sonderhaushalt, den die EU-Kommission und Ratspräsident Herman Van Rompuy vehement einfordern, Deutschland aber ablehnt. Zu den Ideen gehört auch eine europäische Arbeitslosenversicherung. Der Druck auf Berlin zu mehr Solidarität könnte erheblich steigen.
Rettung durch Hartz-Reformen und Mindestlohn?
Andererseits seien die Jobchancen in Ländern mit substanziellen Arbeitsmarktreformen trotz Wirtschaftskrise viel besser geblieben, betonte Andor auf einer Pressekonferenz. Die Hartz-Reformen von Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) werden in seinem Sozialbericht gleich vier Mal als Grund für die gute Lage in Deutschland genannt.
Damit erklärt Andor weitere Einschnitte implizit zum Vorbild für die Krisenstaaten. "Angemessene Arbeitsmarktreformen und besser gestaltete Sozialsysteme können den Ausstieg aus der Krise beschleunigen." Ein Patentrezept gebe es aber nicht, betonte der Kommissar. Als wichtige Zutaten nennt er eine Verschiebung der Steuerlast von der Arbeit auf andere Quellen wie C02-Emissionen oder Immobilien und einen "angemessenen Mindestlohn". Dieser könne auch dazu beitragen, die weiter gestiegene Kluft zwischen hohen und geringen Einkommen sowie das Gefälle in der Entlohnung von Frauen und Männern zu verkleinern.