Eine Wanderung im Nebel: Meinhard Miegel wählte poetische Worte für seine Veranstaltung. Der Soziologe und Vorstandschef des „Denkwerks Zukunft“ hatte einige der prominentesten Gesellschaftswissenschaftler der Gegenwart zu einer Tagung in Berlin zusammengerufen, um nicht weniger als einen „Ausblick auf eine neue Ära“ zu geben.
Die Zukunft ist immer nebulös, aber mehr oder weniger deutliche Schemen kann man doch erkennen, wenn man sie sehen will. Für den Nebelwanderer Miegel ist es vor allem das Ende des Wirtschaftswachstums, das immer deutlichere Konturen annimmt.
Dieses Ende stand den rund 400 Besuchern, darunter Politikerlegenden wie Antje Vollmer und Kurt Biedenkopf und Ex-ZDF-Chefredakteur Niklaus Brender, vor Augen: Eine große Grafik hing über dem zum Podium umfunktionierten Altar, das die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts der sechs EU-Gründerstaaten zeigte. Eine harmonisch auslaufende Kurve, die mit 4,19 Prozent in den 1960er Jahren beginnt, in den 70er Jahren noch 2,93 Prozent erreicht, in den 80ern 2,05 und in den 90ern 1,19 und in den 2000er Jahren nur noch 0,55 Prozent. Wenn das so weitergeht, enden wir in den 40er Jahren praktisch bei Null. In seinem Eröffnungsvortrag ergänzte Miegel dieses Leitschaubild durch zahlreiche andere. Ob man nun die USA und Japan mit einbezieht oder nicht, die Kurven verlaufen ähnlich – sie sinken alle.
Den langfristigen Trend konnten keine „Beschwörungsformeln“ (Miegel) der Politik, keine Marktderegulierung und auch kein Wachstumsbeschleunigungsgesetz brechen. Das Wachstum, ohne das nach Ansicht der Bundeskanzlerin „alles nichts“ ist, lässt sich offenbar immer weniger nach oben prügeln. Dafür, dass das auch in Zukunft nicht gelingen werde, nennt Miegel fünf Gründe: Die Schuldenlast der Staaten, die Grenzen der verfügbaren Ressourcen, die verlorenen Privilegien der alten Industriestaaten, ihre sinkende und alternde Bevölkerung und als „entscheidenden Bremsfaktor“: die veränderten Wünsche der Menschen.
"Die Woge bricht"
Ausgerechnet Ludwig Ehrhardt, der Vater des deutschen Wirtschaftswunder, hatte 1961 – auf dem Höhepunkt der Wachstumsfreude – vorhergesagt, dass sich dereinst „die Woge bricht, wo der Aufwand an materiellen Mitteln, an Fleiß, an körperlicher und geistiger Kraft, sich nicht mehr lohnt“. Drei Jahre später, als Bundeskanzler kündigte er an: „Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtsleistungen auf diesen ‚Fortschritt’ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“ Die Frage stellte sich John Maynard Keynes schon 1930 in seiner Schrift über „Die wirtschaftlichen Aussichten für unsere Enkel“. Keynes empfahl ihnen, nur wenige Stunden täglich zu arbeiten und stattdessen „das Tanzen wieder zu lernen“.
Dass nun 80 Jahre nach Keynes und 50 Jahre nach Ehrhardt möglicherweise die Woge wirklich gebrochen ist, zeigt der Publikumserfolg des Denkwerks Zukunft und die aktuelle Flut entsprechender Bücher: „Exit“, „Wohlstand ohne Wachstum“, „Befreiung vom Überfluss“. Nur die meisten Ökonomen ziehen da nicht mit. Auch nicht diejenigen, die Miegel eingeladen hatte. Richard Werner, Management-Professor in Southhampton, zankte sich mit Thomas Mayer, bis vor kurzem noch Chefvolkswirt der Deutschen Bank, um seine Geld-Theorie und erhielt für seine Forderung nach einem reinen Staatsgeld und dem Ende der Kreditgeldschöpfung Schützenhilfe vom Erfurter Professor Helge Peukert. Werner will den Zins abschaffen, aber das Wachstum befördern. Petra Gerlach-Kristen, Professorin in Dublin und Zinsexpertin, blieb da fast die Spucke weg. „Ein sehr verwirrender Disput“ sei das, sagte Mayer zu Recht. Da keiner über eine nicht wachsende Wirtschaft sprechen wollte - immerhin waren sich die vier in diesem Punkt offenbar einig – debattierte man lieber die Rettung der Eurozone.
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