Ende der 90er Jahre erlebte das Internet mit dem Dotcom-Boom seinen kommerziellen Durchbruch. In den seitdem vergangenen rund 15 Jahren stellten maßgeblich die Personen die Speerspitze der Netzwirtschaft und -kultur dar, die entweder kurz vor, während oder in den Jahren unmittelbar nach der ersten Dotcom-Welle die Faszination der Onlinewelt für sich erkannten. Aus ihnen wurden Gründer und Startup-Geschäftsführer, Website-Betreiber, Investoren, Entwickler und Designer, Blogger, Journalisten, Netzaktivsten oder ganz einfach leidenschaftliche Geeks, die jeden potenziell wegweisenden Service und jede App mindestens einmal kurz ausprobieren mussten, um inneren Frieden zu finden. Anderthalb Jahrzehnte kontrollierte diese "Dotcom-Generation" weitgehend das Netz.
Der Begriff "Dotcom-Generation" ist dabei natürlich nicht mehr als ein abstrahierendes Hilfsmittel. In Wahrheit handelt es sich um mindestens zwei Generationen, die eint, ungefähr zeitgleich ihre ersten Gehversuche im Internet gemacht zu haben, und die zu diesem Zeitpunkt das Kindesalter und die Pubertät bereits hinter sich gelassen hatten. Anders als heute stellte das "World Wide Web" damals noch kein Spielzeug für die ganz Jungen dar. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie waren im Jahr 1997 13 Prozent der 20- bis 29-Jährigen und 12,4 Prozent der 30-bis 39-Jährigen in Deutschland gelegentlich im Netz, aber nur 6,3 Prozent der 14- bis 19-Jährigen – und entsprechend noch weniger der unter 14-Jährigen. Dreiviertel der deutschen Webnutzer waren zwischen 14 und 39 Jahre alt. Sie sind das, was ich als Dotcom-Generation bezeichne, wobei man sie freilich auch "Desktop-Generation", "Tastatur-Generation" oder "ISDN-Generation" nennen könnte.
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Bekannt wurde Florian Homm als Großaktionär bei Borussia Dortmund. Am Neuen Markt war er zuvor schon bekannt als Gründer von Value Management & Research (VMR), die Firmen wie Toysinternational.com oder Comtelco an die Börse brachte. Eine angekündigte Fusion mit der Beteiligungsgesellschaft Knorr Capital scheiterte, Homm zog sich aus VMR zurück.
Wenige Jahre später geriet er mit dem Hedgefonds Absolute Capital Management Holdings mit Investments bei Borussia Dortmund oder dem Finanzdienstleister MLP in die Schlagzeilen. Vielfach war ihm vorgeworfen worden, Kurse massiv zu manipulieren. Als der Hedgefonds 2007 unter Druck geriet, nahm Homm überstürzt seinen Hut und war seitdem untergetaucht. Seine Nachfolger in der Leitung des Fonds warfen ihm später vor, dass viele Investments einen weit geringeren Wert hätten, als ausgewiesen. Die Aktien des börsennotierten Hedgefonds verloren mehr als 90 Prozent ihres Wertes. Seit Februar 2011 läuft gegen Homm auch eine Klage der US-Börsenaufsicht SEC. Zuletzt wurde er in Liberia vermutet.
Nun tauchte der einst skrupellose Finanzinvestor wieder auf - um ein Buch über sein Leben vorzustellen und sich öffentlich reinzuwaschen. Er sei ein anderer Mensch, gehe mindestens zweimal wöchentlich zum Gottesdienst und wolle sich demnächst der SEC stellen, erzählt er der Financial Times Deutschland.
Natürlich können Menschen sich ändern, aber der Eindruck einer PR-Masche zum Verkauf seines Buches bleibt doch bestehen - gerade wenn es stimmt, dass von seinem einzigen Vermögen nicht mehr viel übrig ist.
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Im Januar 2012 wurde der gebürtige Kieler Kim Schmitz in Neuseeland festgenommen. Dem 38-jährigen wurde vorgeworfen, Mastermind hinter dem Raubkopien-Portal Megaupload zu sein. Die spektakuläre Verhaftung rückte auch die Dotcom-Ära wieder in Erinnerung, immerhin hatte Schmitz sein 25-Millionen-Dollar-Anwesen "Dotcom Mansion" getauft und sich selbst seit einiger Zeit ganz offiziell Kim Dotcom genannt...
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Auch in der Zeit des Neuen Marktes war Schmitz eine der schillerndsten Figuren: Unvergessen sind seine Urlaube mit dem durch eine Dieter Bohlen-Affäre als "Teppich-Luder" bekannten Playboy-Bunny Janina...
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Legendär auch seine Auftritte in der Harald-Schmidt-Show, wo Schmitz seinen eigenen Sessel mitbrachte (die vorhandenen waren ihm zu unbequem) und erzählte, wie er den Jet der Haffa-Brüder für eine halbe Million charterte, um einen Kurztrip in die Karibik zu unternehmen.
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Der Filmvermarkter EM.TV ging schon 1997 an den Neuen Markt. Zwei Jahre später feiert Vorstandschef Thomas Haffa auf der Hauptversammlung in Frankfurt ein Kursplus von 16.600 Prozent - die Aktionäre liegen ihm zu Füßen. Wer früh investiert war, konnte es mit ein paar Tausend Euro zum Millionär bringen. Aber kaum ein Anleger erkannte rechtzeitig, dass die Party ein Ende hat. Es kommen Zweifel an den Bilanzzahlen von EM.TV auf, im Oktober 2000 korrigieren Thomas und sein Bruder Florian Haffa die Bilanzzahlen - an nur einem Tag verliert die Aktie fast ein Drittel ihres Wertes. 2001 tritt Thomas Haffa zurück.
Im April 2003 verurteilt das Landgericht München ihn wegen der falschen Angabe von Unternehmenszahlen zu einer Geldstrafe von 1,2 Millionen Euro. Außerdem musste er die Prozesskosten von 2,5 Millionen Euro zahlen. Zu dieser Zeit wird sein Vermögen auf 200 Millionen Euro geschätzt. Sein Bruder Florian muss eine Geldstrafe von 240.000 Euro zahlen. Es folgen jahrelange Prozesse von Anlegern, die die Haffa-Brüder auf Schadenersatz verklagt haben. Thomas Haffa war später beim Anhängerbauer Kögel engagiert, macht Geschäfte im Yachtleasing und ist Geschäftsführer der Münchener Charterfluggesellschaft Air Independence.
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Aufsehenerregend waren auch Aufstieg und Fall des Bodo Schnabel, Gründerchef von Comroad. Wegen Kursbetrugs und Insiderhandels musste Schnabel für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis. Der Unternehmer "verkaufte" ab 1995 Hard- und Software für Telematik-Systeme. Doch die enormen Umsätze erwiesen sich als faul: Schnabel hatte einen asiatischen Abnehmer seiner Technik frei erfunden, 97 Prozent der Umsätze erwiesen sich als Luftbuchung. Comroad hatte im Jahr 2000 einen Börsenwert von 1,2 Milliarden Euro. Am 21. November 2002 verurteilte das Landgericht München Bodo Schnabel wegen gewerbsmäßigen Betrugs, Insiderhandels und Kursbetrugs. Das Strafmaß betrug sieben Jahre Gefängnis. Im Interview mit der WirtschaftWoche sprach er über seine Erfahrungen. Heute hat er eine neue Firma namens Nanomatic.
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Nur drei Tage nach dem Allzeithoch des Nemax-Index geht der Chip-Hersteller Infineon, eine ehemalige Siemens-Sparte, an die Börse. Zur allgemeinen Börseneuphorie passt, das Infineon-Chef Ulrich Schumacher mit einem Rennwagen vor der Frankfurter Börse vorfährt. Die Aktie legt einen Traumstart hin, die Aktionäre glauben, es könnte ewig so weiter gehen. Unter der Orderlast brechen sogar die Handelssysteme zusammen.
Doch mit dem Platzen der Dot-com-Blase gerät auch Infineon unter Druck, der Halbleitermarkt rutscht in die Krise. Nachdem 2002 der Vorwurf der illegalen Preisabsprache aufkam, erklärten sich 2004 vier leitende Angestellte bereit, mehrmonatige Gefängnisstrafen anzutreten und je eine Viertelmillion Dollar Strafe zu zahlen. Die ausgegründete Chipproduktion Qimonda schafft es an die Börse, ist aber Anfang 2009 schon pleite.
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Zu den frühen Stars gehörte Gigabell. Gründer war der frühere Schlagersänger Daniel David, mit bürgerlichem Namen Rudolf Zawrel. Kostprobe gefällig? Seinen Song "Jenny wird noch heute Nacht sterben" von 1980 gibt es noch bei YouTube zu sehen.
Sein Unternehmen nannte sich Multi-Service-Provider, vom eigenen Glasfasernetz und Voice-over-IP-Telefonie war die Rede. Der Börsengang am Neuen Markt erfolgte pünktlich zur Sonnenfinsternis am 11. August 1999, inklusive Millionenschwerer Premierenparty. Zum Börsenstart verkündet David großspurig: "Wenn die Gigabell ihr Debüt am Neuen Markt feiert, geht die sonne gleich zweimal auf."
Fehlinvestments, Gewinnwarnungen und das rasche Verbrennen der Börsenmillionen mündeten im ersten Insolvenzantrag eines Unternehmens vom Neuen Markt - kaum mehr als ein Jahr nach dem Börsengang. David setzte sich nach Marbella ab, wurde gefasst, gestand, und kassierte 2005 eine Bewährungsstrafe von 22 Monaten.
- Bild: AP
1998 startete der Anbieter von E-Commerce-Lösungen áus Jena in dem noch jungen Börsensegment. In der Spitze beschäftigte Intershop 1200 Mitarbeiter und war sogar an der New Yorker Technologiebörse Nasdaq gelistet. Aber der Börsenwert entbehrte jeder Realität: 36 Milliarden Euro für einen Softwareanbieter, der noch Verluste schrieb. Das Unternehmen gibt es immer noch: 2008 erwirtschaftete es erstmals einen Gewinn: 1,5 Millionen Euro.
- Bild: AP
Der Internet- und Multimedia-Dienstleister Pixelpark zählte ebenso wie der damalige Vorstandschef Paulus Neef zu den Stars am Neuen Markt. Mehrheitseigentümer Bertelsmann brachte das Unternehmen 1999 an den Neuen Markt. In nur einem Monat stiegen die Aktien nach der Erstnotiz bei 16,40 Euro auf 30 Euro.
Pixelpark-Aktien erreichten im März 2000 noch Kurse von 194 Euro, der Börsenwert betrug 3,5 Milliarden Euro. Heute liegt er bei 5 Millionen Euro, Bertelsmann hat sich längst zurückgezogen. Ende 2002 wurde Neef fristlos entlassen. 2006 machte das Unternehmen erstmals einen Gewinn. Paulus Neef ist heute CEO von Mama Sustainable Incubation.
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Die Digital Natives kommen
Diese Dreiviertel der hiesigen Internet-Early-Adopter sind heute zwischen 29 und 54 Jahre alt. "Alt" ist dabei das entscheidende Stichwort. Denn genau das werden sie (was den Autor dieses Artikels mit einschließt, der 2013 die 30er Marke erreicht). Gleichzeitig stellt die nachrückende Generation die bisher unangefochtene Position der Dotcom-Pioniere als Macher und Meinungsführer im Digitalen in Frage. Seit 2010 sind laut ARD/ZDF-Onlinestudie 100 Prozent der 14- bis 19-Jährigen in Deutschland zumindest gelegentlich im Netz. Junge Leute, die zur Dotcom-Euphorie gerade das Laufen lernten oder im Sandkasten spielten, die den Umgang mit dem Netz aber so selbstverständlich verinnerlichten wie Schreiben und Lesen. Echte "Digital Natives" also, welche die ganz frühen Tage des Netzes maximal aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen.
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